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Strittmatter, Susanne

Susanne Strittmatter, geboren 1971 in Lübeck, kam zum Studium der Wirtschaftswissenschaften 1995 in das Saarland. Seit vielen Jahren ist sie bei der ZBB gGmbh, Saarbrücken, in der Benachteiligtenförderung als Lehrkraft tätig. Susanne Strittmatter ist verheiratet mit dem Mitautor Matthias Strittmatter. Das Paar hat fünf Kinder und lebt in Elversberg im Saarland.

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Interview mit Susanne und Matthias Strittmatter sowie Yaron Windmüller zu ihrem Buch »Fallende Sterne«

Soeben ist ihr Buch »Fallende Sterne« erschienen. In einem Satz: Was erwartet die Lesenden?

Yaron Windmüller: Ein berührendes Buch, traurig, sehr zart und sehr bitter.

Matthias Strittmatter: Eine erschütternde Geschichte über einen unplötzlichen Kindstod: Die dichte, bewegende Lebenserzählung eines kleinen Jungen, der im Alter von nur 19 Monaten ermordet wird.

Susanne Strittmatter: Und am Ende, nach Hoffnungen und ihren Zerstörungen, die Erkenntnis, dass die Wirklichkeit grausamer ist als jede Fantasie.

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Herr Windmüller, in Ihrem Vorwort beschreiben Sie, wie Maurice lange Zeit nur ein Name und eine Zahl für Ihre Familie war. Was hat Sie dazu bewegt, tiefer in seine Geschichte einzutauchen und ihm auf diese Weise eine Stimme zu geben?

Yaron Windmüller: Maurice ist unser »neunter« Cousin, über den wir all die Jahrzehnte nur wussten, wann er geboren, und dass er bereits im Alter von nur 19 Monaten ermordet wurde. Lange Zeit hatte mein Bruder Arie darum gekämpft, für Maurice in Emden einen Stolperstein legen zu lassen. Als er damit 2023 erfolgreich war und die Gedenkfeier näher rückte, tauchten all die Fragen zu Maurice auf. Ich wollte Maurice und sein kurzes Leben kennenlernen und seine Geschichte erzählen, auch um seiner ganz bewusst zu gedenken.

Das Buch wird aus der Perspektive des kleinen Maurice erzählt, der selbst als Ich-Erzähler seine Geschichte schildert. Wie kam es dazu, dass Sie diese besondere Erzählweise gewählt haben, und wie haben Sie sich in die Gedankenwelt eines so jungen Kindes hineinversetzt?

Yaron Windmüller: Susanne und Matthias werden diese Frage vermutlich anders beantworten als ich. Was uns drei aber unter anderem verbindet ist unser Nonkonformismus. So haben wir auch die gängigen, traditionellen Erzählweisen für Maurices Geschichte geradezu für unmöglich befunden. Die Distanz zwischen Subjektivität und Objektivität, zwischen Ich und Es, war nötig, um Maurice eine Stimme und Raum für seine Geschichte zu geben.

Susanne und Matthias Strittmatter: Die Idee mit der Ich-Perspektive und den ineinandergreifenden Strängen von Innen- und Außenwelt ist kein Ergebnis von Überlegungen und Diskussionen. Sie war einfach da, ab dem Moment, als Yaron mit der Idee zu uns kam, die Lebensgeschichte von Maurice zu erzählen. Es war ab diesem Moment klar, wie das Buch aussehen sollte, wie sich Innen- und Außenwelt verzahnen sollten, und dass Maurice selbst zu Wort kommen muss. Und noch eines war ab dem ersten Moment klar: Dass es kräftezehrend und emotional herausfordernd sein wird, Maurice zu sein für die nächsten Monate des Schreibens. Und so war es auch.

Das Buch beschreibt eine Zeit, in der die Hoffnung für viele Menschen kaum noch existierte. Welche Rolle spielen Hoffnung und Menschlichkeit in Maurices Erzählung, auch wenn sein Schicksal von Anfang an so unheilvoll ist?

Matthias Strittmatter: Maurice ist in seinem kurzen Leben dem Guten begegnet, und das mehrfach. Da war die Familie Weersing, die ihn beschützen wollte, wohlwissend, dass sie sich selbst in größte Gefahr bringen. Selbst im Lager Westerbork versucht Clara Asscher-Pinkhoff, Maurice zu retten. Die vorgezeichnete Linie ist klar, und sie führt von Maurices Geburt zu seinem gewaltsamen Tod. Und doch ist sie nicht linear, sie ist unterbrochen, der Weg scheint sich mehrfach zu gabeln. Es sind die kleinen Momente, die letztendlich sein Schicksal besiegeln: Eine Fotostrecke in der Aprilsonne. Ein Niederländisches Rotes Kreuz, das grundlos seine Zustimmung verweigert.

Susanne Strittmatter: Es ist so viel Zufall, was unser Leben bestimmt. Zufällig hier geboren oder dort, zufällig in diese Familie oder jene, zufällig Menschen begegnet, die es gut meinen oder nicht, zufällig zu der richtigen oder falschen Zeit am richtigen Ort oder am falschen. Und genau das zeigt sich in Maurices Leben: Zufällig im falschen Jahr mit der vermeintlich falschen Religion in einem zufällig für Juden unsicheren Land geboren. Zufällig zur falschen Zeit fotografiert worden. Und so weiter.

Yaron Windmüller: Wir leben auch jetzt in einer solchen Zeit. Noch schlimmer jedoch ist, dass es nicht nur darauf ankommt, wo man lebt. Auch die »Hoffnungsvollen« mögen prüfen, ob ihr Gefühl von Sicherheit nicht eine Illusion ist. Es klingt paradox, aber Menschen fehlt die Fähigkeit, Potenzial im Menschen zu erkennen, und sie können daher auch die notwendigen Konditionen für dessen Verwirklichung nicht schaffen. Vor allem bei Kindern ist das fatal. Das war schon immer ein großes Problem und ist es noch heute, vielleicht sogar mehr denn je.

Maurice’ Erlebnisse stehen symbolisch für das Schicksal vieler Kinder während des Holocaust. Inwiefern sehen Sie das Buch als einen Beitrag zur Erinnerungskultur und als Mahnung für zukünftige Generationen?

Matthias Strittmatter: Erinnerungen verblassen, Zeitzeugen werden weniger, die Bereitschaft zur aktiven Beschäftigung mit dem Holocaust nimmt ab. Ein unheilvoller Dreiklang. Die Geschichte droht zu versanden. Unter diesen Vorzeichen wirkt das Wort Erinnerungskultur wie ein zu ambitioniertes Vorhaben. Es gilt daher, viele kleine und große Geschichten wie die von Maurice zu erzählen, um das Regal der Erinnerungen gefüllt und lebendig zu halten. Es liegt an uns, diese Geschichte weiter zu erzählen.

Susanne Strittmatter: Ohne Erinnerung, ohne das Lebendighalten der Erinnerung, ist alles nichts. Wir haben nur die Geschichte, um aus ihr zu lernen, und wir sind wieder einmal dabei, diese Chance zu verpassen. Wir blicken rechts und links an der Geschichte und dem Unheil vorbei, und wieder werden demokratische Elemente für undemokratische Zwecke missbraucht. Und wieder – aber dazu sollte Yaron etwas sagen – haben Menschen jüdischen Glaubens Angst in diesem Land. Wir können nicht viel mehr dagegensetzen als Worte. Aber das immerhin tun wir, und es ist mehr als nichts.

Yaron Windmüller: Maurices Geschichte steht symbolisch für das Schicksal aller ermordeten Kinder weltweit. Jedes dieser Kinder hat eine Geschichte die es wert wäre, erzählt zu werden.

Lieber Herr Windmüller, im Vorwort sprechen Sie über die Herausforderung, Ihrem Sohn David in dieser Zeit Sicherheit zu bieten. Welche Botschaft möchten Sie als Vater und Autor in Bezug auf jüdisches Leben und Sicherheit in der heutigen Welt vermitteln?

Yaron Windmüller: Es sind drei Botschaften: Vergesst niemals, dass Ihr Juden seid. Passt gut auf Euch auf. Steht auf und leuchtet.

Was möchten Sie zum Abschluss unseres Gesprächs noch sagen?

Susanne Strittmatter: All die Tragik, die zerstörten Hoffnungen, die Ermordung: Es ist millionenfaches Schicksal. Wir sind dem ATHENA-Verlag sehr dankbar, dass Maurice seine Geschichte erzählen darf. Und doch ist sie ein pars pro toto, denn hinter ihr stehen noch Millionen von Geschichten, die erzählt und gehört werden wollen.

Matthias Strittmatter: Wenn Sie diese Worte jetzt lesen, dann geben Sie damit Maurice die Möglichkeit, seine Geschichte zu erzählen – oder mit Maurices »eigenen Worten« zum Ende des Buches:

Wenn sich Menschen meiner erinnern, meine Geschichte schreiben und lesen, dann reiche ich über mein eigenes Leben hinaus, greife in euer Leben ein, bin im Heute angekommen, in einer Zeit rund achtzig Jahre nach meinem Tod.

Dann bin ich lebendig, dann bin ich da.

Yaron Windmüller: Danke. Ich empfinde wirklich Dankbarkeit, wenn jemand dieses Buch in die Hand nimmt und es liest, ganz egal, was er beim Lesen und nach der Lektüre denken mag.

Haben Sie vielen Dank für das Gespräch.

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