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Kleinebeckel, Arno

Arno Kleinebeckel, geb. 1951, Studium und Ausbildung in Köln und Hamburg. Redakteur und freier Journalist, Sachbuchautor (u. a. »Buch der Woche« im WDR-Hörfunk 1986). Lyrik in Anthologien, 2006–2009 Kunstprojekt Lyrics & Design mit eigenem Lyrikband 2007: »wieder ein tag« (zusammen mit dem Designer A. Flach). Verheiratet, lebt im Bergischen Land.

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Interview mit Arno Kleinebeckel zu seinem Buch »Blue hour«

Herr Kleinebeckel, sie arbeiten als Autor und freier Journalist. Ihre Gedichte setzen sich mit dem Menschen in einer hochtechnisierten und -verwalteten, aber weitgehend sinnentleerten Welt auseinander. Die menschliche Existenz driftet zwischen Identitätsverlust, Selbstinszenierung und Resten von Individualität. Nur vereinzelt scheinen auch positiv gestimmte Bilder auf. Wie sehen Sie die Zukunft des gesellschaftlichen Miteinanders?

Arno Kleinebeckel: Nicht besonders optimistisch. Es gibt viele Anzeichen von Verwerfungen, sozialen Bruchlinien, Mangel an Konsens. Und der äußere Schein von Stabilität kommt mir trügerisch vor. Nimmt man nur die Finanzwelt, eine einzige Vortäuschung falscher Tatsachen. Unsere Lebenswelt ist bis in den hintersten Winkel durchkommerzialisiert. In einer Stadt wie Köln eine normale Wohnung zu bekommen, ist so gut wie unmöglich. Die Stadt, der Traum von Urbanität, das ist zu einer Verdrängungsmaschinerie verkommen. In globaler Hinsicht existieren, produzieren und verteilen wir längst auf Kosten anderer; jedes neue Handy bezahlen Kinder anderswo auf dem Planeten mit ihrem Leben. Ich fürchte, die Ideologie der Stärke hat von uns Besitz ergriffen.

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Die »blaue Stunde« ist ein Bild, das uns aus Literatur und Musik vertraut ist. Welchen Bedeutungshorizont hat die »blaue Stunde« für Sie?

A. K.: Mit »Blau« verbinden die meisten Menschen positive Bilder und Gefühle. Denken Sie an die blaue Blume der Romantik, ein Symbol unsterblicher Sehnsucht. Nach Eichendorff kippt diese Auffassung. Die französische Lyrik beginnt, im Blau eine Täuschung zu sehen, Mallarmé sagt: Der Himmel ist tot. Das setzt sich fort. »Und nimm mir diesen Himmel vom Hut«, schrieb der Dichter Ralf Rothmann, das war vor 30 Jahren. Rothmann nennt das Himmelsblau »ein Gähnen über dem Grauen«. Was ist da passiert? Die Blaue Stunde bietet insofern einen Bedeutungsrahmen. Entscheiden wird der Leser, er ist der Souverän. Ich hege die Hoffnung, Blue Hour als übergreifendes Motiv ist offen genug, um jedem seine Sichtweise und Selbstverortung zu erlauben.

Ihr erstes Gedicht heißt »wieder ein tag«. Leser, die Sie kennen, sehen hier einen möglichen Zusammenhang zu Ihrem letzten Lyrikband »wieder ein tag«, der 2007 in Zusammenarbeit mit Andreas Flach entstand. Ist dies bloß Zufall, oder kann man Blue Hour als eine Art Fortsetzung verstehen?

A. K.: Unsere technische, utilitaristische Kultur zerstört Erfahrung. Sie glättet und nivelliert. Überall die homogenisierten Räume, die Klischees von »Leben«, die kommunikativen Prothesen, es geht ja nicht mehr ohne. »wieder ein tag« setzte beim ganz normalen Tagesablauf an: 24 Stunden, 24 Gedichte, 24 Bilder. Diese Konstellation geht aus von einfachen Lebensbeobachtungen. Dabei bleibt es, daher das Eingangsgedicht. Die Tonlage ist vielleicht erweitert. Der Protagonist der Blue Hour befindet sich auch deshalb auf der Flucht, weil die Kälte des Systems überall durchregiert. Sie verändert Menschen und Herzen. Das schließt die Frage nach unserer Selbstanpassung ein: Wie weit betrügen wir uns selbst mit unserer Vorstellung von Glück?

Herr Kleinebeckel, der Verlag schreibt in seinem Klappentext zur Blue Hour: »Das lyrische Ich ist ein Getriebener, auf der Flucht vor sich selbst und der Gesellschaft«. Wenn ich eine persönliche Frage stellen darf: Wieviel Kleinebeckel steckt in dem »Getriebenen«?

A. K.: Ursprünglich gab es die Idee, diese neuen Texte unter dem Titel »Drifter« zu fassen. Ein Grundmotiv ist »Fahren«, das ist die motorisierte Form der Flucht. Paul Virilio, der große Theoretiker der Geschwindigkeit, sagt, wir sind ständig unterwegs, nicht bei uns selbst. Dafür müssten wir anhalten, aussteigen und innehalten. Wir scheuen geradezu die existenzielle Tiefe – und damit vieles, was Zeit und Wachstum kosten würde. Beides gibt es nicht auf einen Klick. Unsere Zivilisation generiert regelrecht einen bestimmten Menschentypus. An der Stelle geistert die blaue Stunde als Lüge, als Verheißung ohne Zukunft. Dagegen steht eine unerhörte Sehnsucht nach Echtheit, Tiefe, Authentizität. Jeder kann prüfen, was davon in ihm steckt. Ich als Autor muss das selber auch tun. Es hat mit der Frage nach unserer Individualität zu tun. Die Utopie des bürgerlichen Individuums ist kein Gradmesser mehr.

Noch eine letzte Frage: Arbeiten Sie schon an einem neuen Projekt?

A. K.: Der amerikanische Journalist Gay Talese hat einmal gesagt: Lieferanten der Wahrheit müssen wir sein. Die lyrische Wahrnehmung ändert sich nicht. Ich sehe im Journalismus und in der Lyrik eine gemeinsame Wurzel. Nah am Menschen sein, schließt Erfahrungen von Ohnmacht, Fragmentierung, Verarmung, Flucht und Sinnverlust ein. Und ja – neue Lyrics? Why not? Jeder Tag hat diesen enormen Wert, alles neu und anders zu sehen, sich zu justieren, im Grau das Blau zu suchen, ohne sich selbst zu betrügen. Da fällt mir die polnische Lyrikerin Marzanna Kielar ein. Auf die Frage, warum ausgerechnet Gedichte, meinte sie: »Gedichte? Wegen einer unheilbaren Liebe zum Leben.«

Vielen Dank für das Gespräch.

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